Um 1940 kamen die modernen Grossraumwagen («Geissbock», «Kurbeli», «Pedaler») in Betrieb. Eine neue Ära brach an. Die Wagen hatten jetzt pneumatische Türen, die hinteren wurden durch den Kondukteur, die vorderste durch den Wagenführer betätigt. Der Kondukteur erhielt einen festen Sitzplatz und musste nicht mehr wie vorher hin- und herpendeln und bei Kurven und Weichen auf seine Standfestigkeit achten.
Archivbilder des Quartals 2024/4
Türe 1 - Die Sache mit dem Vorneinsteigen
Was heute als Selbstverständlichkeit und Bagatelle gilt, war einst eine komplexe Angelegenheit, lange Zeit tabubehaftet, während Jahrzehnten umstritten ‒ und führt beinahe zu einer Revolte.
System «Fahrgastfluss»
Vor allem aber mussten sich die Fahrgäste umgewöhnen. Zuvor wurden sie am Platz bedient und konnten zum Ein- und Aussteigen alle Türen benutzen. Nun galt die strikte Devise: hinten ein-, in der Mitte und vorne aussteigen. «Fahrgastfluss» wurde das neue Regime genannt: zuerst zahlen, dann Platz nehmen.
Stau
In der Theorie war das neue System bestechend. In der Praxis zeigte sich vor allem ein Problem. Bei starker Frequenz stauten sich die Fahrgäste vor dem Kondukteur und es bildete sich bis über die Einstiegstreppe hinaus eine Menschentraube, so dass es eine Weile dauerte, bis die Türe geschlossen werden konnte. Dazu kam das Verhalten der Passagiere. Oftmals blieben sie auf Höhe der Mitteltüre stehen, der Fahrgastfluss kam ins Stocken. Der Ruf des Kondukteurs «Uufschlüüsse bitte!» war allgegenwärtig, zeitigte aber nicht immer die gewünschte Wirkung.
Generalabonnenten dürfen vorne rein
Weil der neue Modus in den Stosszeiten immer wieder zu unliebsamen Betriebsverzögerungen führte, suchte die Betriebsleitung nach Abhilfe. 1952 verfügte sie, dass eine bestimmte Kundenkategorie vorne einsteigen durfte. Es handelte sich dabei um die Inhaber der Monats- oder Jahresabonnemente, damals «Generalabonnemente» genannt. Diese Fahrausweise waren unbeschränkt gültig, relativ teuer und wurden als Sichtkarten mit Foto ausgegeben. Der überwiegende Teil der Pendler reiste derweil mit den beschränkt gültigen, aber preisgünstigen Wochen-Knipskarten, welche bei jeder Fahrt durch den Kondukteur gelocht werden mussten. Mit dieser Massnahme erreichte man eine Beschleunigung des Betriebes und eine gleichmässigere Auslastung des Fahrgastraums.
Die Wagenführer erhielten nun also eine Zusatzaufgabe: die Kontrolle der vorne einsteigenden Generalabonnenten. Ein Grossteil von ihnen tat dies ausgesprochen widerwillig, was zu Reklamationen führte, etwa wenn der Wagenführer stur wegschaute und auch auf das Klopfen nicht reagierte. Das Personal beklagte sich wiederum darüber, dass viele Generalabonnentinnen selbst bei geringem Verkehr und bei kaltem Wetter auf ihrem «Recht» zum Vorneinsteigen bestanden. Das Privileg verschaffte ihnen auch einen Vorteil beim Ergattern eines Sitzplatzes. Die Direktion sah sich zwischen den Fronten und wollte es beiden Seiten recht machen, appellierte mal an das Personal, mal an die Generalabonnenten.
Selbsthilfemassnahmen angedroht
Zehn Jahre dauerte dieser Zustand. Die Überbeanspruchung durch das tägliche Verkehrschaos und die herrschende Personalnot führte dazu, dass es dem Fahrpersonal zu bunt wurde. Im November 1963 beschloss es In einer Gewerkschaftsversammlung mit einer Mehrheit von 81,9 Prozent, das Vorneinsteigen nicht weiter zu dulden und die Türen einfach nicht mehr zu öffnen. Da schaltete sich der Stadtpräsident persönlich ein und warnte von unüberlegten Aktionen. «Trämler-Revolution» titelte der Blick. Schliesslich fand man einen Kompromiss, welcher auf 1. Januar 1964 eingeführt wurde: Das Vorneinsteigen für GA-Kundinnen war gestattet an den Haltestellen rund um den Hauptbahnhof, ferner zu den Stosszeiten an 20 namentlich genannten Umsteige-Haltestellen. Das galt aber nicht, wenn der Zug einen kondukteurlosen Anhängewagen mitführte.
Das «Invalidenzeichen»
Mit der Einführung der Selbstbedienung auf schliesslich allen Linien löste sich das Problem von selbst. Die Eingangskontrolle fiel weg und die Wagen erhielten auch aussen Druckknöpfe, damit die Fahrgäste die jeweilige Türe selbst öffnen konnten. Eine Ausnahme bildete die vorderste Türe, die 1970 mit einem neuen Tabu belegt wurde.
Der vorderste Einstieg war jetzt einzig den «Invaliden» vorbehalten, um behinderten Personen, die allenfalls auf Hilfe angewiesen waren, den Zugang zu erleichtern. Dieser Modus dauerte 16 Jahre.
Ein alter Zopf fällt
Dann endlich, auf den Fahrplanwechsel vom 2. Juni 1996, wurde «Türe 1» für alle geöffnet. Auch die Behindertenverbände konnten sich mit der Freigabe abfinden. Der historische Schritt wurde begleitet von einer PR-Kampagne. Der Druckknopf der vordersten Türe wurde freigeschaltet, einzig die zu dieser Zeit noch in vereinzelten Kursen verkehrenden «Kurbeli»-Wagen besassen keinen solchen, bei ihnen musste nach wie vor der Wagenführer öffnen.
Umgekehrt beim Autobus
Bei den Schnauzerbussen galt seit der Einführung 1927 ein striktes Regime: vorne ein-, hinten aussteigen. Die Regelung wurde vom Personal so rigoros umgesetzt, dass sich die Direktion wiederholt veranlasst sah, das Personal zu mehr Augenmass aufzufordern und bei grossem Andrang auch Ausnahmen zuzulassen.
Ab 1949 kamen die Saurer- und FBW-Frontlenkerbusse in Betrieb. Der Kondukteur erhielt einen Sitzplatz und wie beim Tram mussten die Passagiere hinten einsteigen und am Kondukteur vorbei patrouillieren. (Beim Trolleybus war dies übrigens von Anfang an so ‒ seit der Einführung 1939.) Wenn auf der gleichen Linie alte Hinteneinstieg- und neue Vorneinstiegbusse unterwegs waren, führte das zu ziemlicher Verwirrung bei der Kundschaft. Deshalb wurden die Linien nach Möglichkeit typenrein betrieben. Auch die Chauffeure mussten ab 1952 die vorne einsteigenden Generalabonnenten kontrollieren. Als 1959 der erste Hochlenker in Betrieb kam, hofften die Fahrer, von dieser Aufgabe entbunden zu werden. Vergeblich, man mutete ihnen die Kontrolle auch von ihrem Hochsitz zu.
Die generelle Freigabe der Türe beim Bus verzögerte sich, denn zuvor mussten noch kleinere Anpassungen an Heizung und Kälteschutz vorgenommen werden. Im November 1987 war es dann so weit. Allerdings musste das Fahrpersonal öffnen, denn bei allen Bustypen fehlten aussen die Druckknöpfe. Erst mit den Bus-Neuanschaffungen wurde der äussere Drücker bei Türe 1 zum Standard.
Ein Spezialfall entstand zwischendurch auf den Regionallinien. Dort wurde 1994 das Vorneeinsteigen ab 20 Uhr obligatorisch, denn das Chauffeurpersonal hatte in den Spätkursen die Billette zu kontrollieren. Dies geschah nicht zuletzt aus finanziellen Gründen, konnten doch damit Kontrolleurdienste eingespart werden. Im August 2015 wurde der Swisspass eingeführt. Eine Kontrolle mit blossem Auge war nun nicht mehr möglich und das Chauffeurpersonal wurde von der Kontrollaufgabe entbunden.
Bei Kälte bitte hinten
Der Chauffeurarbeitsplatz ist weit exponierter als die Tramführerkabine. Das Fahrpersonal ist im Winter bei jeder Türöffnung dem Kaltluftstrom ausgesetzt. Ab 1982 tauchten in den Wintermonaten Kleber auf mit der Bitte an die Fahrgäste, doch bei Kälte die hinteren Türen zu benutzen. Die Kleber verschwanden dann irgendwann wieder.
Vierzig Jahre später, Ende 2022, erlebte die Kampagne eine Neuauflage: blaue Kleber aussen an der Tür und ein grossformatiges Plakat im Innern an der Chauffeur-Rückwand. Der Dank des Fahrpersonals ist aus dem Text verschwunden; er wurde ersetzt durch einen süffigen Slogan: «Weniger Zug im Bus».